(Die Bilder für diesen Beitrag habe ich letzte Woche zu Hause bzw. auf meinen Streifzügen durch meinen Heimatort gemacht)
ein Rotkehlchen auf der Terrasse
Kindergarten war schlimm, weil sterbenslangweilig, fand ich. Wir hatten Massen von Plastikspielzeug – Anfang der 70er-Jahre! – , auf das man aber irgendwann keine Lust mehr hatte und man musste blöde Stuhlkreise machen und die immer gleichen Lieder singen. Ich setzte also meine ganze Hoffnung auf die Grundschule, aber die war leider genauso schlimm: Deutsch war auch sterbenslangweilig, weil ich schon lesen konnte und Mathe interessierte mich nicht. Das Doofste aber war, wenn wir handarbeiten mussten – damals natürlich nur die Mädchen, die Jungs hatten Werken. Wir quälten uns mit Stickarbeiten herum, mit Häkeln und Stricken – ich fand das alles wirklich ätzend. Und es fiel mir nicht leicht – meine Geduld und mein Sitzfleisch reichten einfach nicht, um soldatengleiche, perfekt ebenmäßig gestrickte Reihen von Maschen zu produzieren, wie das Daniela und Susanne konnten, die – fand ich – damit deutlich zu selbstzufrieden auftraten!
Überhaupt, das, was bei unseren Anstrengungen herauskam, motivierte mich nicht die Bohne: Ein Nadelheft – boah, wie spannend. Ein Paar neonorangefarbene Handschuhe – die 100% Polyester-Wolle, die mir meine Mutter dafür gegeben hatte, mochte ich von Anfang an nicht. Das Nervigste aber war immer, wenn man einen so kapitalen Fehler mit seinen verkrampften Händen gemacht hatte, dass man einfach nicht weiterkam – wenn das Loch im Socken, das sich plötzlich unter den vier Nadeln auftat, immer größer wurde, bis es sich einfach nicht mehr ignorieren ließ… (vier Nadeln! Ernsthaft?!) – oder wenn die gestickte Reihe, die ein Quadrat formen sollte, eher einem Labyrinth ähnelte… dann mussten wir uns bei Frau Hübner, unserer Handarbeitslehrerin, in einer Schlange anstellen, damit sie die Sache am Lehrerpult begutachtete und rettete, was zu retten war. Im schlimmsten Fall hieß es „Auftrennen!“
Das Warten darauf, endlich dran zu kommen, fand ich besonders quälend – es herrschte kompletter Stillstand und Frau Hübner mochte es nicht, wenn man dabei zu übermütig wurde und Scherze mit den Vorderleuten trieb… Schließlich stand man früher oder später vor ihr: Sie trug die riesige Hornbrille, die damals bei seriösen Menschen üblich war und hatte ihre Leibesfülle in ausschließlich beigefarbene Klamotten mit selbstgehäkelten Westen gehüllt. Bei mir war das Mittel der Wahl meistens: „Carola, nochmal von vorne!“ Puh… Ich erinnere mich auch nicht, dass sie jemals ein liebes oder aufmunterndes Wort an uns gerichtet hätte, na ja, an Daniela oder Susanne vielleicht schon… Sie war nicht boshaft, das nicht – aber so unpersönlich, stelle ich im Nachhinein fest. Das einzig Persönliche, an das ich mich erinnere, war, als wir einmal Sonnenblumen in kratzigen, komisch riechenden Jutestoff gestickt hatten (wozu??) und ich keine Lust hatte, mithilfe von 1000 kleinen Knoten „Sonnenblumenkerne“ in deren Inneres zu machen. Nach drei oder fünf Knoten sagte ich, ich sei fertig. Daraufhin meinte sie: „Aber das sind noch viel zu wenige!“ Und ich: „Den Rest haben die Vögel schon herausgepickt!“ – Sie lachte tatsächlich schallend und meinte dann: „Carola, du bist auch nie um eine Ausrede verlegen, wenn es darum geht, dich vor der Arbeit zu drücken!“ Tja, das war das Persönlichste, das ich in den vier Jahren meiner Grundschulzeit je von ihr zu hören bekam.
Eines war aber sicher und gut so: Frau Hübner wusste immer Rat. Manchmal war es anstrengend und schmerzhaft, was sie empfahl, und es tat einem Leid um jede mühevoll hingefingerte Reihe, die man jetzt wieder aufmachen musste – aber hilfreich war es schon. (So dass man am Ende ein gehäkeltes Krokodil in blau-weiß mit roter Zunge im weit aufgesperrten Maul nach Hause tragen konnte… Auf das war ich tatsächlich ein wenig stolz, denn es hatte wenigstens einen praktischen Nutzen: Ich konnte es als Schlaginstrument verwenden, um mich gegen meine vier Brüder zu wehren.)
Im Ernst: Ich schreibe dies, weil ich das Gefühl habe, dass auch wir als Menschheit nicht mehr weiter ignorieren können, dass das, was wir tun, Folgen hat. Corona z. B. kam ja nicht einfach so über uns: Schon lange wurde davor gewarnt, den Lebensraum von Wildtieren immer weiter einzuschränken oder sie gar zu essen. Der enge Kontakt mit den Krankheitserregern, die sie in sich tragen, mündet in eine weltweite Katastrophe, wie wir jetzt sehen – nur als ein Beispiel…Wir müssen endlich Rat suchen bei denen, die Rat wissen und auf sie hören und endlich, endlich Mittel ergreifen, auch wenn diese schmerzhaft sind und Verzicht bedeuten. Wir können nicht so weiter machen. Es ist notwendig, wenn auch nicht lustig.
Lustig war es in der Grundschule höchstens in Reli. Unsere Frau Heumesser war eine kleine, zackige Person mit nie versiegender guter Laune. Ich erinnere mich so gerne an sie. Ein paar wenige aus meiner Klasse und ich waren katholisch, damit Minderheit und in die Katakomben der Schule in einen dunklen Raum verbannt. Wir saßen an Pulten, die man heute im Museum bestaunen kann, mit Metall-Einlassungen für Tintenfässer vorne, die man herrlich geräuschvoll auf und zu klappen konnte… Frau Heumessers Unterricht folgte dem immer gleichen Schema: Erst erzählte sie eine Geschichte aus der Bibel – und sie konnte prima erzählen mit ihrer leicht rauen Stimme – wir fanden es immer spannend und hörten ihr sehr gerne zu – und dann musste jede*r ein Bild malen, von dem, was wir gehört hatten. Dabei betonte sie immer, dass es dabei nicht darum ging, wer das „schönste“ Bild malte, sondern nur, ob die wesentlichen Bestandteile ihrer Erzählung auf unseren Bildern auftauchten oder nicht – wenn du also bei der Weihnachtsgeschichte Josef, Maria, Jesuskind drauf hattest, war dir eine Zwei sicher. Krippe, Ochs und Esel dazu? Glatte Eins! Wow, drei Weise aus dem Morgenland auch noch, das hast du dir gemerkt? Eins mit Sternchen! So einfach war das.
Und ich erinnere mich gut, ich mag so sieben oder acht gewesen sein, als ich eines Nachts plötzlich aufwachte. Ich hatte das Gefühl, Gott habe mich geweckt, einfach, um mir zu sagen: „Du, Carola, ich hab dich unendlich lieb.“ Ich fand es ein bisschen seltsam, aber nur ein kleines bisschen, hauptsächlich fand ich es wunder-, wunderschön und ich erinnere mich auch, dass ich eine Weile vor Freude vor mich hin strahlte. Ich fühlte mich unendlich wohl und geborgen. Gott hatte mich sehr, sehr lieb und mich extra geweckt, um mir das zu sagen.

Heute bin ich überzeugt davon, dass es die Gebete der guten Frau Heumesser waren, die mir dieses Erlebnis beschert haben. Es ist einfach so ein Gefühl, dass sie was damit zu tun hat. Sie hatte selbst keine Kinder und ich hatte immer die Gewissheit bei ihr, dass sie es gut meinte mit uns, dass wir so sein durften, wie wir waren. So, wie wir waren, waren wir ihr sehr willkommen. Und ich bin mir heute ganz sicher, dass sie für ihre Schüler und Schülerinnen betete.
Ich wünsche mir und uns allen, dass wir die Frau Hübners und die Frau Heumessers in uns in Balance bringen: Dass wir einen klaren Blick auf unsere Situation werfen können, wenn wir nicht mehr weiter wissen, dass wir dadurch finden mögen, was uns jetzt hilft, auch wenn es schwierige Entscheidungen fordert und nicht gerade angenehm sein mag – und dass wir aber auch den liebevollen Blick auf uns nicht verlieren, dass wir uns selbst immer willkommen sind.

„Wenn du eine Liste mit den Leuten, die voll und ganz hinter dir stehen, verfassen müsstest: Wäre dein Name auf dieser Liste?“
– Jenn Hardy –
Und aus der Erfahrung mit ME/CFS weiß ich: Die Dinge, auf die man lange verzichten musste, erscheinen einem dann, wenn man sie wieder hat und erleben kann, umso wertvoller. In diesem Sinne können wir uns einfach jetzt schon freuen – eines Tages wird zumindest die Corona-Krise vorbei sein und wir werden wieder auf Konzerte gehen… tanzen, unbeschwert, mit vielen anderen… im Chor singen… einkaufen ohne Mundschutz… und vor allem, vor allem: Wieder nah beieinander stehen, wenn wir miteinander reden wollen. Uns etwas ins Ohr flüstern. Uns wieder umarmen, zart oder herzhaft, die Körperwärme, die Nähe spüren – bei jedem, der sich darüber freut… oh, wie schön das wird…
Letztens las ich, an Weihnachten ginge es doch darum, dass man glücklich sei und Liebe spüre. Puh, dachte ich, da ist die Überforderung unterm Tannenbaum aber vorprogrammiert. Was, wenn ich an Weihnachten nicht glücklich bin? Was, wenn ich die meisten anderen, die mit mir unterm Baum sitzen, gerade lieber auf den Mond geschossen sähe? Hab ich dann Weihnachten versaut? Nein, finde ich. An Weihnachten feiern wir doch, dass ein Kind geboren ist, für manche der prophezeite Messias, der Erlöser; für andere „nur“ – aber immerhin – ein Weiser, der eine ganz besondere Beziehung zu den Mächten des Universums hatte. Ganz ehrlich: Ich hab so meine Zweifel, dass es Jesus´ Tod am Kreuz brauchte, damit unsere Sünden vergeben sind und ich kenne einige Theologen, die das auch so sehen. Aber was ich feiere an Weihnachten, ist dies: Gott sucht offensichtlich die Verbindung zu uns. Er schickt seinen Sohn. Ihm ist es eventuell gar nicht egal, wie es uns geht, auch wenn sich das oft so anfühlt. Sich in diesem Jahr für mich sehr oft so angefühlt hat. Aber vielleicht, vielleicht… ist das gar nicht so.

Feiert Ihr Weihnachten? Was genau feiert Ihr? Und wie feiert Ihr in diesem Jahr? Ich würde mich so freuen, wenn Ihr mir davon erzähltet. Wir werden nur mit zwei von drei Kindern Weihnachten feiern, eines ist in Quarantäne, habe ich gerade erfahren. Wie schade ist das denn… dabei habe ich meine Tochter seit September nicht mehr gesehen… Zu den Großeltern gehen wir auch nur zu zweit und bleiben nicht lange. Und wir werden zwei Raumluftfilter im Einsatz haben… Oh well…
Spaßprogramm, wie immer? Na klar: Heute ein Text, der vor kurzem in der Stuttgarter Zeitung zu lesen war:
You, Baby
Eine alte Weise rührt derzeit die Herzen der Menschen. Von Martin Gerstner
Der alte Weihnachtschoral „All I want for Christmas is You“ spendiert derzeit vielen Menschen in der Corona-Krise Trost. Ursprünglich arrangiert für üppige Altstimme im hautengen roten Kostüm, Kunstschnee und Luxus-Kinderchor, kann das Stück von jeder Grundschulklasse mit vier bis 16 Blockflöten glaubwürdig interpretiert werden. Das dazugehörige sogenannte Musikvideo wurde im Nachlass eines österreichischen Gemeindepfarrers entdeckt, der 1678 starb. Dort sieht man Engel mit Zuckerstangen auf einer Eislaufbahn – Theologen sehen darin eine Glücksverheißung in Zeiten von Krise, Missernten und fehlenden Shoppingmalls.
Rätsel gibt den Exegeten der Text auf, der auf eine Handschrift des Mittelalters zurückgeht und tief in mythologischen Sedimenten gründet. Im Refrain heißt es: „Make my wish come true. All I want for Christmas is you, Baby.“ Hier wird also der Wunsch nach einem Baby an Weihnachten formuliert, was Bach zu seinem Choral „Uns ist ein Kindlein heut geboren“ inspirierte. Ob eine Schwangerschaft durch intensives Hören des Lieds auf einer Eislaufbahn so beschleunigt werden kann, dass es für Heiligabend noch reicht, ist aber unwahrscheinlich.
Friedliche, frohe Weihnachten Euch allen! Kommt gut ins Neue Jahr!
Seid behütet in diesen Zeiten.
PS: Am 21. Dezember war Wintersonnenwende. Die längste Nacht ist vorbei; das Licht kehrt langsam, aber sicher zurück. Ich freue mich.

Habt Ihr´s erraten, was hier steht?
SMILE! 🙂